Internat für Schwererziehbare
Internate sind nicht nur etwas für die "Bildungselite", sondern auch für Kinder, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, die ihren Abschluss an der regulären Schule nicht schaffen oder die mit den Strukturen einer normalen Schule nicht zurechtkommen. Jedes Jahr verlassen rund 80.000 Jugendliche die Schulen in Deutschland ohne einen Abschluss.
Die Internate für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche, die teilweise bereits aufgegeben waren, finden in Internaten häufig die Möglichkeit, sich wieder sozial zu integrieren oder die schulischen Leistungen auf ein Niveau zu bringen, welches einen qualifizierenden Abschluss ermöglicht. Internate für schwererziehbare Kinder sind entweder in staatlicher oder in privater Trägerschaft und kosten unterschiedlich viel Geld pro Monat. Bei den Internaten in staatlicher Trägerschaft belaufen sich die Kosten im Monat auf 50 bis 350 Euro. Private Internate verlangen pro Monat nicht selten 2000 Euro oder sogar mehr. Geboten werden dafür eine gute Ausbildung und Betreuung.
Angebote der Internate
Internate für Schwererziehbare bieten einen geregelten Tagesablauf und straffe Strukturen. Den Kindern und Jugendlichen wird weniger Freiraum eingeräumt, als das bei einem normalen Internat der Fall ist. Der Unterricht findet vor allem in den relevanten Kernfächern statt, dazu kommen verschiedene Zusatzangebote. Die Konzepte der Internate für schwererziehbare Kinder und Jugendliche zielen darauf ab, dass der Ganztagsunterricht verfolgt wird. Nachbereitungskurse zum Unterricht und eine psychosoziale Betreuung gehören zum üblichen Angebotsumfang. Der Betreuungsschlüssel ist sehr gut, auf ein Kind kommen nicht selten zwei Lehrer - dies allerdings nur bei Internaten, die in privater Trägerschaft sind. Das Hauptziel besteht darin, die Kinder individuell zu fördern. Es geht dabei nicht nur darum, den leistungsschwachen Schülern Möglichkeiten zum Lernen zu geben, sondern auch darum, leistungsstärkere Schüler zu motivieren und zu noch mehr Leistung anzuregen. Nicht selten gehen die angeblich schwererziehbaren oder lerneingeschränkten Jugendlichen später mit einer guten Durchschnittsnote vom Internat ab und starten in eine reguläre Ausbildung.
Internat für schwererziehbare Kinder - Freiheit als pädagogisches Prinzip
Was soll ein schwererziehbares Kind dürfen? So einfach die Frage scheint, so weitgehend ist sie dennoch. Sie repräsentiert einen Grundkonflikt, der diskutiert wird, seit man pädagogisch denkt.
Wird ein schwererziehbares Kind eher durch Lenkung seines Tuns oder durch freie Handlungsmöglichkeiten in seinem Wachstum gefordert? Soll es ausprobieren dürfen, Fehlern aufsitzen, ungeordnet forschen, soziale Regeln auch einmal übertreten können - oder soll es den Vorgaben der Erwachsenen folgen müssen, ihren Lehrgängen und Regeln entsprechend heranwachsen, ein ausgewähltes und vorgeordnetes Wissen studieren und Gehorsam lernen?
Der Blick in die Geschichte lohnt auch hier. Schon Goethe ließ diese Grundfrage lebendig werden, und zwar in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, wo er den Abbé sagen lässt: »Nicht nur Irrtum zu bewahren, ist Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit des Lehrers.“ Und in Buch VIII, Kapitel 3: „Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf fremden Wegen recht wandeln. Finden jene, entweder durch sich selbst oder durch Anleitung den rechten Weg, das ist der, der ihrer Natur gemäß ist, so werden sie ihn nie verlassen, anstatt dass diese jeden Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzuschütteln und sich einer unbedingten Freiheit zu ergeben.“
Dagegen plädieren viele im Internat für Schwererziehbare: „Wer nicht im Augenblick hilft, der scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblick Rat gibt, nie zu raten. Ebenso nötig scheint es mir, gewisse Gesetze auszusprechen und den Kindern einzuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beinahe behaupten: es sei besser nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt“.
Nur selten in der Geschichte der Pädagogik hat man diese Problemstellung einseitig beantwortet. Zugunsten von Lenkung und Zwang etwa immer da, wo heute von „schwarzer Pädagogik“ die Rede ist, zum Beispiel zu Zeiten Daniel Gottlob Schrebers (der Erfinder der Schrebergärten), der die völlige Unterwerfung des kindlichen Willens unter die Erwachsenen beschwor, der den kindlichen Willenstrieb geradezu zu brechen suchte, der - nur ein Beispiel - Foltergeräten nicht unähnliche Gestelle entwickelte, die Kindern angelegt wurden, um Haltungsschäden erst gar nicht entstehen zu lassen. Auch die NS-Pädagogik ist hier anzuführen.
Völlige Freigabe des kindlichen Handlungsspielraums fordern dagegen die antiautoritäre Erziehungsbewegung und die Reformpädagogen, obwohl sie manchmal zu Missverständnissen in dieser Hinsicht Anlass gegeben haben. Doch diese Beispiele sind Ausnahmen, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass Erziehung sich erst quasi immer auf einem „Mittelweg“ zwischen beiden Extremen abspielt, wobei der pädagogisch tätige Erwachsene diesen Mittelweg im unmittelbaren Kontakt mit dem schwererziehbaren Kind immer wieder neu definiert, d.h. das Vorgehen vom Einzelfall abhängig macht.
Fast jeder Pädagoge wird diesem letzten Satz zustimmen. Das Problem besteht nicht darin, dass diese „Antinomie“, d. h. dieser Widerstreit beider gegensätzlichen und doch jeder für sich richtigen Prinzipien, die sich in pädagogischem Handeln vereinen - dass also diese Antinomie nicht gesehen werden würde.
Das Problem ist vielmehr die scheinbare Beliebigkeit und Ratlosigkeit, die eine solche Auskunft hinterlässt. In der Antinomie von Freigabe und Lenkung repräsentiert sich die eher progressive und eher konservative Erziehungshaltung. Einerseits kann gelten, dass Erziehung zu Freiheit und Selbständigkeit möglich ist, indem den Kindern ständig Erprobungsmöglichkeiten und Spielräume gegeben sind. Andererseits wird vertreten, dass Strenge, Führung und Anweisung nötig sind, um, nach einer Vorschule des Gehorsams durch so erlangte Reife und Kompetenz, echte und bewusste Freiheit leben zu können.
Wer hat Recht? Natürlich haben beide Recht. Doch das nützt den nach Handlungsmaximen suchenden Eltern und Pädagogen nicht viel. Die wahre Kunst erweist sich wieder einmal nicht in der Theorie, sondern in einer Praxis, die Kindern eine Lernumwelt bietet, in der beide Prinzipien zum Tragen kommen: freie Erprobungsräume für schwererziehbare Kinder, freie Selbstentfaltung auf der einen Seite - und zugleich (grade bei schwererziehbare Kinder) Lenkung, Ordnung des Wissenserwerbs, Hilfen und Führung auf der anderen Seite.
Um diese Forderung nunmehr zu verdeutlichen, wollen wir pädagogische und schulische Handlungsprinzipien einmal sortieren. Wohnt ihnen eher das Prinzip der Lenkung oder das der Freigabe inne?
Prinzipien der Lenkung beim Internat für Schwererziehbare:
- ein Lehrplan bzw. ein Kurrikulum, das die Lerninhalte und die Abfolge der Lernschritte vorschreibt;
- ein Stundenplan mit klarer Zeiteinteilung;
- Fächer, die den Wissensstoff sortieren;
- Vorgabe der Methode, durch die gelernt werden soll;
- Schulpflicht;
- Bewertung der Lernarbeit;
- Verbote;
- Verhaltenserwartungen und Anweisungen an die Schüler;
- Strafen;
- Lob (auch Lob lenkt, denn es veranlasst das Kind, ein Verhalten zu wiederholen).
Prinzipien der Freigabe:
- Wünsche der Kinder, was und in welcher Reihenfolge sie etwas lernen wollen, werden erfüllt;
- einen klaren Stundenplan gibt es nicht, die Aktivitäten richten sich nach jeweiligen Absprachen;
- Fächergrenzen spielen keine Rolle, wichtig ist, was inhaltlich zum Interessengebiet gehört;
- die jeweiligen Methoden richten sich nach den Bedürfnissen der Kinder;
- das Lernen ist freiwillig;
- eine Bewertung findet nur statt, wenn die Kinder sie wünschen;
- die Kinder dürfen grundsätzlich tun, was sie wollen;
- sie werden nicht bestraft;
- sie werden nicht durch Lob in ihrem Verhalten beeinflusst.
Ein Internat für Schwererziehbare, die vollständig nach diesen „Prinzipien der Freigabe“ arbeitet, gibt es nicht. Das ist auch gut so. Schulen, die weitgehend nach den „Prinzipien der Lenkung“ arbeiten, gibt es außerordentlich viele. Und das ist nicht so gut. Es sind die öffentlichen Regelschulen, die den schwererziehbaren Kindern nur in sehr engen Grenzen Abweichungen gestatten, die andere schon längst erdacht und für gut befunden haben.
Ein Internat für schwererziehbare Kinder, die das Attribut „frei“ auch im pädagogischen Sinn versteht, wird ihre Praxis von solch weitgehender Lenkung fortentwickeln, hin zu den „Prinzipien der Freigabe“, ohne diese freilich erreichen zu wollen. Was das im Einzelnen heißt, wollen wir noch einmal durchgehen:
- Ein Lehrplan bzw. eine Summe von Wissen, das man den Kindern als Allgemeinbildung mit auf den Lebensweg geben möchte, kann sehr wohl in seiner Ordnung und auch in der Schwerpunktsetzung entsprechend den individuellen Wünschen der Kinder und der Eltern modifiziert werden. Eine Lücke hier, ein größeres Wissen dort - wenn so vermieden wird, dass unentwegt ein ödes Pensum widerwillig gebüffelt werden muss, wird das Kind weitaus mehr Nutzen als Schaden haben.
- Zwischen der gängigen Stundenplanpraxis und der spontanen, ungeregelten Lernaktivität existieren viele sinnvolle Verfahren. Sicher muss es zeitliche und inhaltliche Grenzen geben, doch müssen die schwererziehbare Kinder einer Klasse nicht immer dasselbe tun und gleichzeitig damit fertig sein. Sie können selbst Verschiedenes einteilen, zwischen Alternativen wählen, auch einmal länger bei einer Sache bleiben.
- Viele Themen berühren verschiedene Fächer. Hier sollte nicht abgegrenzt, sondern verbunden werden.
- Der Methodenvielfalt mögen Grenzen gesetzt sein, doch muss berücksichtigt werden, dass Kinder (und Erwachsene) jeweils nach verschiedenen Methoden optimal lernen können.
- Das Problem des Schule Schwänzens oder des Lernzwanges stellt sich nicht für ein schwererziehbare Kind, das „ungezwungen“ (indem man seine Person ernst nimmt) lernen darf.
- Nicht nur schwererziehbare Kinder und Eltern, auch „die Gesellschaft“ verlangt Bewertungen. Doch sie können humaner, ohne zu diskriminieren, und aussagekräftiger erfolgen.
- Verbote provozieren ihre Übertretung. Mit weniger Verhaltensmaßregeln wächst die Verantwortung der Kinder, und das Miteinanderleben funktioniert meist besser.
- Natürlich sollte man schwererziehbare Kinder in der Schule auch loben, doch nicht als psychologischer Dressurakt, sondern als Ausdruck ehrlichen Gefallens.
Unsere Bemühen, möglichst konkret zu sein, müssen hier vorläufig enden. Denn um noch konkreter zu sprechen, hätte man die einzelnen Schulmodelle jetzt zu beschreiben.
Die Lösungen zwischen den Eckpunkten „Freigabe“ und „Lenkung“, die die verschiedenen Pädagogiken anbieten, wird man in den meisten Fällen als sehr durchdacht, oft originell und als menschlich empfinden können. Sie setzen sich ab von der starren und doch recht einseitig auf lenkende Einflussnahme setzenden Arbeit der Regelschulen. Sie sind Verantwortungsbewusst, weitgehend pädagogisch, kaum weltanschaulich motiviert und werden seit langem erprobt und praktiziert.
Leider kann man nur abwarten, wann die Zeit reif dafür ist, dass das öffentliche Schulsystem etwas mutiger als heute damit beginnt, diese wahrhaft pädagogischen Prinzipien auch in ihrem notgedrungenen Massenbetrieb zu integrieren. Wer aber heute ein schwererziehbares Kind hat, dem er eine qualifizierte und pädagogisch modellhafte Schulumwelt ermöglichen möchte, der kann nicht warten.
Eine begrenzte Zahl von Internate für Schwererziehbare bietet sich ihm an. Sind sie wirklich besser als die Regelschulen? Lernen die Kinder dort nicht vielleicht doch zu wenig oder zu einseitig? Wird mein schwererziehbares Kind, das ja optimal gefördert werden und nach Möglichkeit Abitur machen soll, nicht doch durch die Integration von weniger begabten oder auch behinderten Kindern gebremst? Je offener solche Fragen diskutiert werden, desto ehrlicher und vernünftiger kann eine so wichtige Entscheidung wie die Schulwahl getroffen werden.